Wer mich kennt, weiß, dass ich mich mit Boulevardtheater manchmal schwer tue. Aber von Zauberhafte Zeiten in der Komödie hatte ich Gutes gehört und gelesen: Zwei junge Leute teilen sich aufgrund widriger Umstände ein Appartement. Er verliert den Job (Wallstreet-Händler), sie ist ihren leid (Krankenschwester) und kommt auf die Idee, als Zauber-Duo aufzutreten. Mit Unterstützung seiner Mutter setzen sie den Plan um. Sie proben wochenlang, sind nach ersten Rückschlägen erfolgreich und werden auch noch ein Paar. Klingt nach einer netten Story. Schwiegermütter-Geschichten können witzig sein, das mit der Zauberei weckte meine Neugier und gegen einen Theaterabend mit Happy End hatte ich an diesem Samstag auch nichts einzuwenden.
Aus der Ticket-Odyssee im Zootheater (siehe Blogbeitrag „Neulich im Zootheater“) hatte ich gelernt und deshalb telefonisch ein Kärtchen geordert und auch gleich per Kreditkarte bezahlt, so dass ich es zu jeder beliebigen Zeit an der Abendkasse abholen konnte. Meine beliebige Zeit war Viertel vor acht. Die Abendkasse gehört mir allein. „Guten Abend, für mich liegt hier ein Ticket.“ Die Dame an der Kasse sah mich an, als würde ich mich hier einschleichen wollen, fragte aber nicht nach meinem Namen sondern wehrte erst mal pauschal ab. „Für Sie? Nicht, dass ich wüsste.“ Ich: „Doch, ich hatte angerufen.“ Sie: „Ja, nein, muss gucken.“ Mein Ticket lag dort. Die erste Hürde war überwunden, und die zweite (Freitreppe nach unten auf 12cm hohen Absätzen, ohne total albern auszusehen) war auch zu meistern.
Im Vorraum zum Saal hatten sich schon fast alle Zuschauer versammelt. Die Herren blickten im Schnitt etwas weniger glücklich drein als die Damen. Sie waren offenbar nicht ganz freiwillig hier. Die Damen nippten hingegen erwartungsvoll an ihren Gläschen, guckten, wie die anderen so guckten, und musterten einander interessiert – allzeit bereit, die eine oder andere lästerliche Anmerkung abzusondern. Ich folgte ihren Blicken. Vertreten war so ziemlich alles vom engen Samtkleidchen mit Strassbehang (und zu enger Unterwäsche drunter) bis hin zur Cargo-Hose mit Strickpulli – keine Highlights des schlechten Geschmacks, weshalb ich an dieser Stelle auf eine umfassendere Mitlästerei verzichte. Der unsägliche Big-Ben-Glockenschlag mahnte, die Plätze einzunehmen. Ich saß 3. Reihe Mitte, die Plätze vor mir waren frei. Glück gehabt.
Der Herr Intendant Professor Helmer mahnte uns wie üblich vom Band, nicht zu vergessen, das Handy nach der Vorstellung wieder einzuschalten – netter Witz, der wie alle Witze dieser Welt allerdings nur beim ersten Mal witzig ist.
Es ging los – mit Frank Sinatras „New York, New York“. Wir befanden uns also in den USA, genauer gesagt im Appartement des Yuppies Chris, gespielt von einem Mann mit einem kleinen „S-Fehler“, dessen Gesicht keines seiner 55 Lebensjahre verbergen konnte. Warum besetzt man so? Es gibt doch zahllose hochtalentierte arbeitsuchende Jungmimen. Die fehlende Jugend versuchte er durch ein lausbubenhaftes Dauergrinsen wettzumachen, was nicht nur erfolglos sondern spätestens nach zehn Minuten ebenso nervig war wie seine übrigen aufgesetzten Grimassen. Ihm zur Seite hatte die Regie eine Kollegin gestellt, der man knapp die Hälfte ihrer 40 Lebensjahre nicht ansah (nicht mal aus der 3. Reihe). So ganz glaubwürdig war diese Paarkonstellation also nicht. Abgerundet wurden die Besetzungssünden durch Chris‘ Mutter: großgestig, knapp 70 und entweder nur schlecht auf 50 heruntergeschminkt oder übel auf 40 herunteroperiert. Da will ich jetzt mal nicht weiter spekulieren. Einzig der Postbote Stefan Schneider passte, aber Postboten passen immer.
In der ersten halben Stunde geschah quasi nichts, außer der Einführung in Situation und Charaktere, was angesichts deren einfachen Struktur wirklich nicht nötig war. Lustig war allenfalls, zu beobachten, wie sich der falsche Bauch des Postboten beim Sitzen verschob und aussah wie ein hastig unters Hemd geschobenes Sofakissen. Und ja, wer Kalauer und Slapstick-Einlagen mag, hat sicherlich auch hin und wieder gelacht. Ich kann mir bei Handtuch-Rangeleien, die mit dem rückwärtigen Sturz der Kämpfer enden, oder auch bei einem Karussell der Marke „ich trag die Koffer ein paar Mal vor die Tür und Du schleppst sie immer wieder herein“ allenfalls ein müdes Lächeln abringen. Sollte wohl für Dynamik sorgen.
Gute Boulevard-Komödie lebt auch von überzogenen Charakteren, aber darauf hat Regisseur Folker Bohnet, den ich als Schauspieler kenne und mag, verzichtet. Schade, das hätte der gestrigen Inszenierung wirklich gut getan. Aber Chris hätte genauso gut Bio-Gemüse- wie Wall-Street-Händler sein können, und die frustrierte Krankenschwester Debbie wäre auch locker als taffe Fitnesstrainerin durchgegangen. Sie tanzte, joggte und gymnastikübte sich durch das Stück. Der erste Teil endete mit einem gelungenen Zaubertrick. Na endlich! Bis dahin hatte ich zwei Mal gelacht, vier Mal geschmunzelt und war drei Mal beinahe eingenickt.
In der Pause belauschte ich den Kurzvortrag eines Hobby-Zauberers, der zuerst darauf hinwies, dass Zauberer die Tricks ihrer Kollegen nicht verraten dürfen (Zauberer-Ehrenkodex), um dann seinen Zuhörern beflissen zu erklären, wie kurz zuvor aus dem roten Tuch in Chris Hand ein rotes werden konnte …
Nach der Unterbrechung hatte ein Sitzplatzwechsler mit 2×2-Meter-Silhouette zugeschlagen, sich vor mich geschummelt und so für seinen Ticketpreis von vermutlich 20,50 den 33-Euro-Blick ergattert. Ich grummelte, war aber angesichts seines Formats zu feige, mich mit ihm anzulegen. Der zweite Teil schloss sich zunächst nahtlos an den ersten an: Grimassen, Gymnastik, große Gesten, Kalauer und der Fortgang der vorhersehbaren Geschichte auf der Bühne, quittiert von 2 bis 3 Mal Lachen oder Schmunzeln und mehreren Beinahe-Nickerchen in der Mitte der 3. Reihe. Die Zauberei-Übungen haben das schlimmste verhindert. Apropos schlimm: Bemerkenswert schlecht, weil eine zusammenhanglose Plattheit, war der „Moment der Wahrheit“. Chris gesteht Mama, dass er seinen Job verloren hat. Mama entgegnet so etwas wie: „Aber ich bin doch immer stolz auf Dich, mein Sohn“. Oh Mann!
Während meines Kampfes gegen den Theaterschlaf, der ja laut Shaw auch eine Form der Kritik ist, fielen mir noch einige Ungereimtheiten auf. Wie kommt es zum Beispiel, dass man urplötzlich nach Wochen bemerkt, dass ein Postbote, der angeblich jeden Tag Pakete bringt, 20 kg abgenommen hat. Und seit wann verbrennt man beim Bügeln ein Hemd, wenn man erschreckt wird. Für mich wäre das Ganze ein durch und durch vergeudeter Abend geworden, wenn nicht irgendwann doch noch die Zaubershow gekommen wäre. Die war wirklich gut gemacht und (zumindest für mich stets verzauberungsbereite Magie-Rezipientin) nicht durchschaubar … bis hin zur „Enthauptung“ von Chris. Wie sehr sich der Darsteller beim Zaubern und Sterben anstrengen oder konzentrieren musste, war wegen seines Grimassierens und Dauergrinsens nicht auszumachen – ein Grinsen, das auch bei den Vorhängen (von denen mindestens zwei durch die Applausordnungs-Regie erzwungen waren) wie festgetackert auf seinem Gesicht lag, und das mich noch auf dem Nachhauseweg verfolgte.
Ich glaube, ich lege jetzt erstmal ein paar Wochen Boulevardtheater-Pause ein.