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Samstagabend, 23.30 Uhr. „Warum ich mir einen Einkauf zu nachtschlafener Zeit antue?“ Weil ich es kann, und weil ich morgen früh den Tisch voller Frühstücksgäste habe, die ich mit den zwei glücklichen Hühnereiern und dem halben Glas Mama-Marmelade im Kühlschrank auf keinen Fall satt machen kann. Also strebe ich auf meinem Heimweg nach dem Theater und einem netten Dinner zusammen mit erstaunlich vielen, zum Teil recht spärlich bekleideten jungen Menschen in den Supermarkt im Keller des MyZeil. Der Sonderstand mit den leckeren Käsecremes hat schon zusammengepackt. Der junge Mann grüßt mit einem bedauernden „Montag wieder! – Dann alles ganz frisch!“. Hmm, heute also nicht mehr frisch. Gut, dass ich nicht schon vor einer halben Stunde da war. Also rein ins Wunderland der vornehmlich luftdicht verschweißten Köstlichkeiten. Der Einkaufskorbbehälter am Eingang des Supermarkts ist leer, aber es gibt noch Einkaufswagen. Eigentlich mag ich keine Einkaufswagen, weil mit ihnen die Gefahr groß ist, dass ich mehr kaufe als ich tragen kann … aber das nur nebenbei. Am Leergutautomaten hat sich eine kleine Schlange gebildet und erschwert den Durchgang. Einige haben riesigen Taschen mit leeren Flaschen und Dosen dabei – die Ausbeute des heutigen Tages. Der/die eine oder andere könnte mal wieder eine Dusche vertragen. Ein frischrasierter Herr im Anzug, ebenfalls bepackt mit viel Plastik und Blech, macht mir den Weg frei und lächelt mir zu – irgendwie passt er nicht so recht in die Schlange. Ich gehe im Kopf meine Einkaufsliste durch. An den Obst- und Gemüseregalen ist kein Mensch zu sehen. Offenbar kauft man zu dieser Zeit nix Gesundes. Ich schnappe mir einen Beutel Saftorangen und wende mich gen Frischetheke und den nicht verschweißten Leckereien zu. Hinter dem Verkaufstresen steht eine junge Frau und gähnt – kein Wunder: Auch für sie ist es bereits halb zwölf. Sie versucht mich davon zu überzeugen, dass der vorgeschnittene Parma genauso gut und frisch ist wie der am Stück. Ich bleibe standhaft, verkneife es mir jedoch, meinem „150 Gramm bitte“ ein „Aber bitte schön dünn“ hinterzuschicken. Schön dünn werden die Scheiben trotzdem. Beim Käseabschneiden antworte ich auf ihr „So?“ schon fast automatisch: „Etwa halb so viel“. Warum ist eigentlich für professionelle Käseabschneider immer 250g die kleinste Einheit? Muss das Ergebnis eines Verkaufstrainings sein. Jetzt rüber zum Fischangebot, begleitet von der Verkäuferin, die offenbar um diese Zeit für alle offenen Lebensmittel verantwortlich ist. Die Fischsalate überzeugen mich ebenso wenig wie der Graved Lachs – stehen wohl auch schon eine Weile, aber wer braucht schon Heringssalat zum Frühstück. Und für den Lachs greife ich später ins Regal. Während ich noch mit mir ringe, ob Räuchergarnelen eine gute Idee sind oder nicht, dringt eine Jungmännerstimme in mein Ohr „Ey, Alter, auch hier! Geil – was geht?“ Sie gehört einem mittelschwer angetrunkenen Bub, der so aussieht, als dürfte er eigentlich gar nicht hier sein. Sein Kumpel, „Alter“, wirkt kaum älter. Ich entscheide mich für die Garnelen, als von rechts eine ältere Dame mit lavendelfarbenen Haaren herantrippelt und an der Käsetheke Position bezieht. Irgendwo hat sie einen Einkaufskorb ergattert. Noch während die Verkäuferin meine entschalten Schalentiere abwiegt und ich staune, wie wenig in diesem Fall 100 Gramm sind, ruft die alte Dame ein bisschen schrill: „Fräulein, sind Sie auch für Käse zuständig?“. Die junge Frau lächelt gelassen (vielleicht auch nur erschöpft) und ruft zurück „Moment Frau Peters, ich komme gleich“. Mich klärt sie auf: „Die kommt jeden Abend um diese Zeit und kauft drei Scheiben Käse für sich und 40 Gramm Kalbsleberwurst für ihre Katze Minka, die eigentlich ein Kater ist“. Da soll noch mal einer sagen, in den Supermärkten der City herrsche Anonymität. Ich ziehe weiter zum Michprodukteregal; auch hier kaum ein Kunde auszumachen. Bin mal wieder überwältigt von der Auswahl und muss mich zunächst orientieren. Wer braucht bitte sieben verschiedene Sorten „Frischkäse natur“? Während ich noch zwischen 10% und 20% Fettanteil schwanke (am Ende wird es der mit den 20%), passieren mich viele gut gelaunte Menschen mit leeren Händen und ohne Einkaufsbehältnis. Was machen die hier? Findet an den Eistruhen vielleicht eine Party statt? Da wäre ich glatt dabei. Am Joghurtregal wieder das Auswahlproblem. Neben mir steht eine geradezu kriminell schlanke junge Frau, die sich die Nährwertangaben jeder einzelnen Sorte durchliest. Ihre Wahl fällt auf fünf Becher von irgendetwas, das mit einer riesigen 0,2% beschriftet ist, bestimmt ganz furchtbar schmeckt aber perfekt zu den DuDarfst-Würstchen in ihrem Wagen passt. Ich habe mich unterdessen für ein Milcherzeugnis nach griechischem Rezept entschieden, die einzige traditionell hergestellte Milch aus den sieben angebotenen Sorten herausgefischt, den Lachs meines Vertrauens gefunden und zehn jüngere Geschwister meiner glücklichen Eier ausgewählt. Auf meinem Einkaufszettel im Kopf ist alles abgehakt. Ich schlendere also weiter dem Gemurmel in der Nähe der Kasse entgegen. Langsam werden die Gänge voller. Kurz bevor ich zur Zahlstelle abbiege, fällt mir ein, dass Sekt zum Frühstück eine nette Idee wäre, und da ich schon mal hier bin, kann ich auch gleich ein Fläschchen Tonic mitnehmen. Vielleicht genehmige ich mir nach dem gelungenen Einkauf zuhause noch einen kleinen Gin dazu. Hier zwischen den Getränkeregalen finde ich die Antwort auf die Frage, wo die Teens und Twens alle hinwollten: Zwei junge Mädchen diskutieren, ob sie ihren Wodka mit normalem Red Bull oder mit der Light-Version verlängern sollen. Ein älterer Herr studiert die Etiketten und Preise aller angebotenen Weinbrand-Sorten, ein etwas unruhig wirkendes Paar steht ratlos vor der Champagner-Auswahl und entscheidet sich dann für den Gang zum Kühlregal – offenbar ein dringender Fall. Von weiter hinten höre ich das Geräusch einer zerbrechenden Flasche, gefolgt von einem deftigen „Ey Scheiße, Alter!“ Ich glaube, den jungen Mann kenne ich. Ich passiere eine Gruppe Mädels, die intensiv ausdiskutieren, ob der echte Baileys wirklich die 6 Euro Mehrpreis wert ist, und da ist auch der rasierte Anzugmann aus der Leergutschlange wieder. Er wirkt ebenfalls einigermaßen unentschlossen. Ich schnappe mir eine Flasche Gräger und will jetzt wirklich nach Hause. So schnell wird das aber nichts: Megaschlangen an der Kasse, obwohl fast alle Bänder besetzt sind. Ich suche mir die beste aus. Die Wahl der Kasse ist eine Wissenschaft für sich: Nicht alle Kassiererinnen sind gleich schnell, die Kunden haben unterschiedlich viel eingekauft, und die Bänder stehen versetzt. Nicht selten erweist sich die auf den ersten Blick kürzeste Schlange am Ende als die längste. Zufrieden mit meiner Entscheidung sehe ich gelassen dem Ende meiner nächtlichen Lebensmitteleroberung entgegen. Aber heute haben mir meine wundervollen klugen Vorüberlegungen nichts genutzt. Als erstes gehen der Kassiererin die kleinen Scheine aus. Sie greift zum Mikrofon: „Herr Volkert, bitte abschöpfen und kleine Scheine an Kasse 4“. „Abschöpfen“ gefällt mir. Herrn Volkert offenbar auch. Er ist blitzschnell zur Stelle. Dann gibt es Streit zwischen ein paar Jugendlichen darüber, wer mit seinem Taschengeld für die Rechnung aufkommen muss, kurz darauf funktioniert das EC-Kartenlesegerät nicht – auch nicht beim siebten Versuch. Hier kann Herr Volkert nicht helfen. Der Einkauf muss an der Nachbarkasse neu eingegeben werden. Die Kundin ist sauer. Aber allmählich kann ich das Gesicht der Kassiererin erkennen. Das Ende naht. Ich packe meine gesammelten Frühstückszutaten auf das Band als mir plötzlich Rasierwasserduft in die Nase steigt. Hinter mir steht der Anzug-Mann mit dem Ergebnis seiner Einkaufsüberlegungen: eine Flasche Billig-Gin. Er lächelt mich an. Weil ich ein freundlicher Mensch bin, lächele ich zurück. Das scheint er misszuverstehen. „Du scheene Frau. Siehst Du? Gin und Tonic … passt gutt. Du haben Lust auf trinken zusammen?“ Ich danke freundlich aber ablehnend, aber er gibt noch nicht auf. „Warum nicht wollen? Du allein, ich allein – mache scheene Abend, habe Spaß bisschen. Ich guter Mann.“ Mit meinem diesmal energischen „Nein, ganz bestimmt nicht“ bin ich glücklicherweise an der Kasse angelangt und jeder weiteren absurden Diskussion enthoben. Ich zahle cash, damit sich mein Aufenthalt nicht noch durch das ja offenbar heute etwas labile Kartenlesegerät verlängert. Beim Einpacken höre ich die Kassiererin sagen: „Da fehlen noch 15 Cent.“ Vor ihr liegt die Barschaft des unternehmungslustigen Herrn: ein 5-Euro-Schein, der Bon aus dem Leergutautomaten und viele kleine Münzen. Der „gute Mann“ sieht ziemlich verzweifelt aus, kramt in seinen Anzugtaschen, blickt hilflos um sich, zuckt mit den Schultern. Ich fasse mir ein Herz, gebe ihm 15 Cent und mache mich rasch aus dem Staub. Im Weggehen höre ich ihn noch rufen „Danke, Du sein gute Frau!“