TEIL 2
Das erste Wochenende
Habe am Wochenende dann doch ein bisschen gearbeitet, obwohl das nicht der Plan war. Am liebsten wäre ich einfach nur hier geblieben und hätte aufs Wasser geguckt und mit den Möwen geredet, aber dann trieb es mich doch in die City, die nur 2 oder 3 Kilometer von meinem Viertel entfernt ist. Ich brauchte Lebensmittel (der Supermarkt hier hatte Inventur), Zigaretten, ein Messer, das schneidet, und ich wollte zwei blauen Tischdecken kaufen. Die orangefarbenen Dinger, die hier in dem ansonsten ganz in blau-weiß eingerichtet Häusi herumliegen, störten mein Farbempfinden. Außerdem wollte ich nach diesem Fischmarkt am alten Hafen schauen, an den ich mich von meinem letzten Marseille-Besuch erinnerte. Schon nach zehn Minuten stand ich im Stau. Derzeit wird eine schicke Promenade am alten Hafen gebaut. Das bedeutet eine Riesenbaustelle und nur noch eine Fahrspur – und am Samstagnachmittag wollen offenbar alle in die Stadt, genauso wie in Frankfurt halt. Umkehren ging auch nicht, weil Einbahnstraße… also Stopp-and-Go-te ich mich eine halbe Stunde bis zu einem Parkhaus am Hafen, dessen Fußgängerausgang auf einem anderen Platz lag als die Einfahrt. Ich merkte mir irgendein Museum zur Orientierung und zog einfach los. Irgendwo dahinten musste der Stadtkern sein …
… irgendwo schon, aber nicht da, wo ich hinging. Nach einer Weile fand ich mich in einer Wohngegend wieder, die in eine andere Wohngegend überging. Ja klar, ich hätte meine SCOUTeuse zu Rate ziehen können (mittlerweile funktionierte auch das Handy wieder – war diesmal nur ein Bedienungsfehler gewesen), aber im Grunde genommen gefiel mir das orientierungslose Herumlaufen. Ich atmete die Stimmung der Stadt und lernte so das tunesisch/marokkanisch/algerische, das türkische und das jüdische Viertel kennen. Mit SCOUT wäre mir das alles entgangen. Als ich genug hatte, suchte ich dann aber doch mit elektronischer Unterstützung den Weg zurück ins Zentrum, fand einen Carrefour und ein Tabakgeschäft, wo meine Zigaretten 7,50 Euro kosteten. Gut, dass ich nur auf dem Balkon und damit erheblich weniger rauche als in Deutschland. Einem Laden für Tischdecken bin ich nicht begegnet, aber man kann nicht alles haben. Im Carrefour hat ein kleiner Junge versucht, mir eine Hautcreme aus der Tüte zu klauen, die ich vorher in der Galerie Lafayette erstanden hatte – sehr befremdlich, zumal seine Mutter nicht etwa entsetzt war, sondern nur sehr cool meinte, er solle das doch bitte lassen. Nach dem anstrengenden Einkauf genehmigte ich mir in einem Straßencafé noch einen Pastis, gab mit 80 Cent offenbar zu viel Trinkgeld (die Kellnerin hat mich zwei Mal gefragt, ob ich das ernst meine) und machte mich dann auf den Heimweg. Der war bedeutend schneller erledigt als die Hinfahrt am Nachmittag, und ich war froh, wieder allein daheim zu sein. Im Moment brauche ich weder Trubel noch Menschen. Das Meer, der Himmel, die Möwen und ich sind mir genug.
Die erste volle Woche
Der Schreibtisch war voll! … eigentlich zu voll, aber das war nicht zu ändern. Und drei Tage lang war es kalt … und windig … und wolkig … und wellig. Am Mittwoch saß ich mit zwei Strickjacken und Wollstulpen an Händen und Füßen vor dem einzigen Elektroheizkörper am Schreibtisch, und meine Nächte habe ich auf der Schlafcouch im Wohnzimmer verbracht. Erstens ist es hier oben wärmer und zweitens kann ich so beim Aufwachen den Himmel und das Meer sehen.
Die Waschmaschine funktioniert, meine Duschkopf-Stützkonstruktion hält. Das Badezimmer teile ich mit einer Kakerlake, vor denen ich mich aber noch nie geekelt habe. Weil sie sich nicht fangen ließ, habe ich friedliche Koexistenz beschlossen und sie angesichts ihrer veritablen Größe eines Namens für würdig befunden: Gregor. Ja, ich weiß, nicht besonders originell, aber passend, und ich mag Kafka.
Ich habe Antwort vom Siemens-Kundendienst: eine Gebrauchsanleitung in PDF-Format – sehr gut. Die orangefarbenen Tischdecken stören mich immer noch.
Das Haus habe ich nur zum Lebensmitteleinkauf verlassen und täglich 10 bis 12 Stunden am PC gesessen, unterbrochen von kleineren Pausen auf dem Balkon, der nachmittags ab etwa 15 Uhr in der Sonne liegt (wenn sie denn scheint). Dann kann ich im T-Shirt draußen sein (theoretisch auch ohne), und auch der Wohnraum heizt sich durch die große Fensterfront auf. Diese Wärme hält sich dann bis zum nächsten Morgen im Haus. Am Vormittag ist es immer kühl. Telefoniert habe ich quasi nur geschäftlich, leibhaftig gesprochen nur mit den Angestellten in den Läden, 5 Minuten mit einem der Nachbarn und am Donnerstag mit Celine, die zum Putzen kam – in High Heels, kleinem schwarzen Kleidchen und Lederjäckchen, dezent geschminkt, mit Fußkettchen am Knöchel und viel französischem Charme. (Zum Putzen hat sie sich aber umgezogen …) Ich kam mir ziemlich „basic“ vor in meinem Riesenpulli + Strickjacke über irgendwelchen Hosen + Wollsocken, ergänzt um die Stulpen und einen Schal, ungeschminkt und mit achtlos zusammengebunden Haaren. Im Vergleich zu mir wirkte sie irgendwie lebendig – eine seltsame Erkenntnis.
Ich bin gern allein. Der ganze Trubel daheim ist weit weg. Meine Kontakte nach Frankfurt beschränken sich auf den Austausch von Kurznachrichten mit einem Freund und dem Empfang ein paar privater E-Mails, die ich nur kurz beantworte. Auch seltsam. Eigentlich schreibe ich sonst immer ganze Romane. Ich arbeite so vor mich hin, lebe meinen eigenen Rhythmus, koche und esse, wenn ich Hunger habe, schlafe, wenn ich müde bin, trinke kaum Alkohol, rauche weniger. Aber ich bin fast durchgängig bei Facebook eingeloggt. Die Plattform ist zurzeit meine Verbindung zur Welt, so lächerlich das auch klingen mag. Ich poste zwar selbst fast nichts blättere aber in meinem News-Stream, nehme so passiv am Leben meiner FB-Freunde teil und markiere mit einem „Gefällt mir“, was mir gerade so gefällt. Mal lustige Dinge, mal schlaue Sprüche, mal Posts von befreundeten Theatergruppen … Ich merke aber auch, dass ich allmählich das Interesse an Bildchen, Sinnsprüchen, sozialverantwortlichen und politischen Statements verliere. Auch die Weltpolitik interessiert mich zurzeit nicht sonderlich. Meinen Info-Bedarf decke ich mit den Schlagzeilen der Google-News. Ich lese keine Tageszeitung- oder Wochenzeitschriften (allenfalls mal eine Kolumne), noch nicht mal den Spiegel und lösche die Branchen- und Frankfurt-E-Mail-Newsletter ungeöffnet. Am Abend zappe ich kurz durch die französischen TV-Programme, und ich habe mir über‘s Internet den Tatort angesehen. Ich werde mit jedem Tag ruhiger, und die Gedankenspiralen entwirren sich, werden zu trägen Flüssen. Ich finde die Ruhe für eine Bestandsaufnahme meiner „Baustellen“ und der vielen „Hochzeiten“, auf denen ich tanze.
Das zweite Wochenende.
Der Kühlschrank war leer, und die orangefarbenen Tischdecken nervten allmählich wirklich. Zudem befürchtete ich, dass die Farbpatrone meines Druckers nicht bis zum Ende meines Aufenthalts hier durchhält. Das Ladegerät für die Akkus der PC-Maus liegt auch in Frankfurt. Dabei würde es jetzt hier gebraucht…. Ich musste also in die City oder zumindest mal in irgendein Einkaufszentrum mit Elektronikmarkt. Ich entschied mich für ein modernes Shopping-Center am neuen Hafen, den ich mir ohnehin mal ansehen wollte und für eine elektronische Wegweisung, die wunderbar funktionierte, weil mich das Programm um den Stau am alten Hafen herumführte. Nach einer Viertelstunde war ich am Ziel, fand auch einen Parkplatz in der x-stöckigen Tiefgarage, dessen Nummer ich mir sicherheitshalber notiert habe, bevor ich mich ins Gewühl stürzte. Toll an französischen Tiefgaragen sind die farbigen Lämpchen an der Decke (rot/grün/blau). So erkennt man mit einem Blick in eine Parkreihe, ob ein Platz frei ist oder nicht und sitzt nicht irgendeinem Smart oder Fiat 500 auf, deren Hecks man nie sieht. Blau steht übrigens für Behindertenparkplatz.
Das Einkaufszentrum war wie in Deutschland und eigentlich überall in Europa, nur die französische Fassung des Mediamarkts war schlechter sortiert. Ein Akkuladegerät war zwar aufzutreiben, Patronen für meinen Drucker leider nicht. Aber es gab einen Einrichtungsladen mit blauen Tischdecken. Wunderbar! Nachdem ich auch noch ein molliges Strickjackenmonster und ein Paar ziemlich hässliche aber wärmende Socken erstanden hatte (wer weiß, wann mich der Mistral wieder überfällt), warf ich noch einen Blick auf den Hafen selbst (unspektakulär) und freute mich über die gut ausgestattete Lebensmittelabteilung des Monoprix, wo ich dann gleich mal 50 Euro für lauter leckere Sachen gelassen habe, bevor ich mich wieder auf den Rückweg machte. Der gestaltete sich allerdings schwierig.
Die Ausfahrt aus der Tiefgarage war die erste Hürde. Ich muss den Bezahlautomaten übersehen haben, entdeckte aber dann, dass die Fahrer der ausfahrenden Autos Banking-Karten in den Händen hielten. Ich fragte eine junge Frau durch ihr heruntergekurbeltes Fenster, ob man tatsächlich an der Ausfahrt zahlen könne. Sie meinte, das ginge problemlos mit EC-Karte. Erst nach einer halben Stunde war ich am Ausgang (offenbar wollten jetzt alle Shopping-Center-Besucher nach Hause), um festzustellen, dass der Automat meine Karte nicht akzeptierte. Dunkel erinnerte ich mich an die Tankstellen an der Autobahn. Der freundliche junge Mann an der Schranke bestätigte mir meinen Verdacht. So erlebte ich dann mal das Gefühl, Verkehrshindernis zu sein: Zurückfahren ging nicht, also musste ich eine der beiden Ausfahrten mit meinem kleinen ausländischen Auto versperren und „händisch“ bei einer mit einem Menschen besetzten Kasse zahlen. Erstaunlich: keiner hat gehupt oder mich mit französischen Flüchen belegt.
Die zweite Hürde war die eigentliche Rückfahrt: Zuerst habe ich versucht, mich auf meinen Orientierungssinn zu verlassen (klappt in der Regel), muss aber an irgendeiner Stelle falsch abgebogen sein, so dass ich mich in einer total verstopften Einbahnstraße wiederfand: gefangen! Ich nutzte die nächste Gelegenheit zum Abbiegen und tastete mich weiter. Ich behielt immer im Kopf, wo die Küste war und dachte, so problemlos zurück zu meiner Eremitage zu finden. Weit gefehlt: Marseille ist die Nummer eins in Sachen Einbahnstraßen. Vielleicht hat dieser Wahnsinn ein System, aber das hat sich mir bis heute nicht erschlossen. Nachdem ich das eine oder andere Wahrzeichen der Stadt 2 bis 3 Mal passiert hatte, hielt ich irgendwo an, um Scout zu befragen: Kein Netz, und ich hatte vergessen, die Frankreichkarte zu kaufen, was mir die Offline-Nutzung ermöglicht hätte. Also fuhr ich weiter, immer mal einen Stopp einlegend, bis ich eine Netzverbindung hatte. Dann war alles ganz einfach. Gelernt habe ich dabei, dass (1) man hier an der Ampel losfahren muss, sobald sie gelb blinkt, um ein Hupkonzert zu vermeiden, (2) man als Fußgänger einfach so die Straße überquert in der berechtigten Hoffnung, schon nicht überfahren zu werden und (3) das Reißverschlusssystem hier super funktioniert. Vielleicht kam mir aber auch mein ausländisches Kennzeichen zu Gute. Nach insgesamt einer guten Stunde Irrfahrt und einer weiteren Viertelstunde Parkplatzsuche war ich endlich wieder in meinem Häusi und brauchte erstmal eine Dosis Meer und Möwen, bevor ich meine Einkäufe verstaute. Der Austausch der Tischdecken war mir ein Fest!
Den Sonntag habe ich wechselweise auf dem Balkon, auf der Couch und in der Küche verbracht – auch mit Blog-Schreiben, denn das strukturiert die Gedanken zusätzlich und verhindert, dass ich diese Zeit hier rückblickend anders wahrnehme, als ich sie jetzt erlebe. Darüber hinaus habe ich einen literarisch recht wertlosen, aber sowohl romantischen als auch spannenden Roman gelesen, und es genossen. Und ich koche jeden Abend: Schreiben und Lesen entspannt und Gemüseschneiden hatte für mich schon immer etwas Meditatives.
Es wird wieder wärmer!
Die zweite volle Woche.
Ich arbeite immer noch viel und lebe ansonsten zunehmend in meiner eigenen Welt, komme immer weiter runter und zur Ruhe, entferne mich zugleich aber auch allmählich vom „echten“ Leben, trotz Arbeit und dem einen anderen mehr oder weniger geschäftlichen Telefonat.
Seit Dienstag ist es jeden Tag ein bisschen wärmer geworden. Ich war wieder schwimmen, aber ansonsten diese Woche nur zwei Mal vor der Tür, und das auch nur zum Einkaufen und Müll entsorgen. Ich koche nach wie vor jeden Abend. Mein Facebook-Account bleibt immer öfter und immer länger geschlossen. Der anfangs noch regelmäßige Kontakt mit dem Freund besteht auch nicht mehr, aber das ist eine andere Geschichte. Gesprochen habe ich in den letzten Tagen mit kaum jemandem: ein paar Sätze mit einem Handwerker, der die Jalousie in der verwaisten Schlafhöhle repariert hat (verwaist, weil ich beschlossen habe, jeden Tag beim Aufwachen den Himmel sehen zu wollen und deshalb auf der Schlafcouch im Wohnbereich nächtige), „Guten-Tag-Bitte-Danke-Schönen-Abend“ beim Einkaufen und gestern ein kurzes Schwätzchen mit Celine, die hier wieder alles gesaugt, gewischt und die großen Fenster geputzt hat. Das muss man eigentlich fast jede Woche, weil das Meer vor der Tür mit Salz um sich wirft.
Habe „Freiheit“ von Jonathan Franzen gelesen – tolles Buch!
Dadurch, dass es hier so ruhig und ereignislos ist, nehme ich Veränderung in meiner direkten Umgebung stärker wahr. Vormittags mäandern immer ein paar Kormorane vor dem Balkon herum. Erstaunlich, wie schnell diese Dinger unter Wasser schwimmen können. Ihre Fliegerei ist dagegen eher bemitleidenswert. Mittlerweile glaube ich auch, erkennen zu können, in welcher Stimmung sich die Möwen gerade befinden. Sie schreien nicht immer gleich, sondern variieren von „zärtlich“ über „neugierig“ und „ein bisschen beleidigt“ bis hin zu „echt sauer“. Ich habe eine für mich neue Vogelart entdeckt, aber noch nicht näher bestimmt. Sie tönt ein bisschen wie Turmfalken. Nachts läuft manchmal irgendwo unten eine Ratte herum und fiept leise. Die Zikade vom Felsen nebenan ist weitergewandert oder ist das Opfer irgendeiner Nahrungssuche geworden. Mein gepanzerter Mitbewohner Gregor ist noch da, aber wir sehen uns selten. Er ist auch immer ein bisschen pikiert, wenn ich ihn überrasche, und da ich ein diskreter Mensch bin, mache ich jetzt abends immer zuerst das Licht an und warte drei Sekunden, um ihm die Chance zu geben, sich auf seinen Krabbelbeinchen unter den Waschtisch zu verziehen.
Mein Schlaf-Wachrhythmus verändert sich weiter. In den letzten zwei Tagen bin ich schon ganz früh eingeschlafen und war dafür um vier Uhr wach und ausgeruht. Um diese Zeit fallen immer ein paar Sternschnuppen vom Himmel, aber sie sind zu schnell, als dass ich mir etwas wünschen könnte.
Habe Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg von Jonas Jonasson gelesen – sehr lustig.
Ach ja: Jeder Sonnenuntergang ist anders!
Ich bin noch immer gern allein. Heute ist Halbzeit, Zeit für eine Zwischenbilanz:
- Eine Weile allein ohne den üblichen Trubel ist gut für die Seele. Das Meer und der Wind ordnen die Gedanken. Vieles relativiert sich.
- Nicht reden zu müssen, tut gut.
- Kochen macht mir immer noch Spaß. Habe ich den letzten zwei Jahren selten gemacht, werde ich aber wieder öfter tun. Mir schmeckt das Zeug, das ich koche.
- Man kann auch ohne Spülmaschine leben, aber mit ist besser 😉
- Bücher lesen entspannt. Dazu habe ich mir lange keine Zeit mehr genommen. Das wird sich ändern.
- Keine Abendtermine zu haben, ist wunderbar. Das nimmt den Zeitdruck aus dem ganzen Tag.
- Man kann frieren und trotzdem braun werden.
- Ein Leben ohne Waage und Gewichtsstatistik ist prima. Mit der täglichen Wiegerei macht man sich unnötig Stress.
- Alkohol ist überflüssig, aber ohne Zigaretten geht es aber im Moment nicht.
- Bettwäsche auf einem wackeligen „Flügeltrocknet-Gestell“ aufzuhängen ist kein Spaß.
- Wenn ich mal alt bin, will ich am Meer wohnen.
Meine Auszeit tut mir sehr gut. Nach heutigem Stand würde ich es hier noch eine Weile länger aushalten als ein paar Wochen, wenn man das Haus gescheit heizen könnte … Vielleicht sollte ich aber für jedes Jahr eine solche Zeit einplanen – oder mein Leben in Zukunft so gestalten, dass das gar nicht nötig ist: ein paar „Baustellen“ zuschütten und ein paar „Hochzeiten“ absagen.
Die dritte und vierte Woche
Das wird ein kurzes Kapitel. Ich ziehe mich immer weiter zurück, gehe alle zwei/drei Tage nach draußen, wenn der Kühlschrank leer ist, habe quasi nur noch geschäftlich Kontakt nach Deutschland. Die Tage sind gleichförmig und friedlich. Die Welt wird mir zunehmend egaler. Die Arbeit am PC, das Meer, das Wetter, die Möwen und die vorüberziehenden Boote und Fähren sind meine Unterhaltung. Ich schicke meine Gedanken spazieren – und ich lese Bücher.
Habe Aleph und Untreue (beide von Paolo Coehlo) und Der Horizont von Patrick Mondiano verschlungen. Bin in alle drei völlig abgetaucht.
Ich schreibe keine Blogtexte mehr. Es gibt ja auch nichts zu berichten und wenn man nicht gerade Goethe heißt, sind innere Monologe für die Leser meist langweilig. Morgen kommt meine Freundin für zwei Tage. Dann werde ich wieder reden müssen und vor die Tür. Ich freue mich sehr auf sie, bin aber auch gespannt, wie sich das anfühlt. Was ist, wenn ich den Mund nicht aufkriege?
Die letzte Woche
Das waren zwei sehr schöne und wichtige Tage. Wir haben viel geredet; mundfaul war ich allenfalls in der ersten halben Stunde. Und wir haben bei 21°C und strahlendem Sonnenschein ein kleines Touristenprogramm absolviert: Notre Dame de la Garde, in der vor allem die vielen kleinen Ölgemälde an den Wänden auffallen, den alten Hafen (hinter der Baustelle) einschließlich Riesenradfahrt, die Kathedrale, die so aussieht, wie Kathedralen nun mal aussehen, und am zweiten Abend ein Dinner in einem kleinen Hafen bei mir um die Ecke – Bouillabaisse, begleitet von Wein und gefolgt von einem Dessert. Hat uns so viel gekostet wie ein Degustationsmenu in einem 1-Sterne-Restaurant in Frankfurt. Aber egal. Lecker war’s. Am Sonntagmorgen habe ich sie zum Flughafen gefahren und danach den direkten Weg nach Aix-en-Provence eingeschlagen. Dort bin ich nach einem recht schlechten Croissant mit noch schlechterer Konfitüre einfach nur durch die Stadt spaziert und auf Märkten herumgestrolcht und habe alles auf mich wirken lassen.
Zurück in meiner Eremitage habe ich mich zwei Stunden lang ein bisschen allein gefühlt, aber dann wieder meinen Rhythmus aufgenommen: arbeiten, Meer gucken, lesen, Gedanken spazieren schicken – eine letzte Woche lang.
Habe Die Frauen von T.C. Boyle und Ein ganzes halbes Jahr von Jojo Moyes gelesen.
Die Koffer sind gepackt und alle Entscheidungen getroffen (war am Ende ganz leicht). Morgen geht es zurück. Ein letzter Sonnenuntergang, zugegebenermaßen mit Tränen in den Augen, aber auch mit Riesenfreude auf die Menschen und Dinge, die mir wichtig sind. Wer und was das ist, weiß ich jetzt.
Die Rückreise
Abstecher nach Nîmes zu meiner Großcousine, von der ich bis vor einem halben Jahr gar nicht wusste, dass es sie gibt. Aber es gibt sie – und sie ist bombennett. Nach einem formidablen Bœuf Bourguignon und anderen französischen Köstlichkeiten mache ich mich auf den Weg gen Nordwesten. Das Tanken erledige ich mittlerweile sehr souverän, halte wie selbstverständlich die Geschwindigkeitsvorgaben ein und bemerke die Dauerblinker kaum noch. Ich lasse die letzten Wochen Revue passieren, im Radio läuft Musik des Sohnes meiner Großcousine, der Mitglied einer Band namens Fysh ist: Metal, aber mit erkennbaren Melodien. Die Fahrtroute habe ich ausgedruckt, falls meine SCOUTeuse mal wieder eine Auszeit nehmen sollte … genau das tut sie auch. Und ich bin so in Gedanken, dass ich Basel mit Genf verwechsle und prompt auf der falschen Autobahn lande. Vor irgendeinem nahenden Autobahnkreuz halte ich auf dem Standstreifen, um mich zu orientieren. Ja, ich weiß schon, dass das verboten ist, aber was sollte ich denn machen … Wie sich herausstellt, bin ich völlig falsch und habe mir mit meiner Gedankenduselei einen Umweg von 150 Kilometern eingebrockt. Jetzt passe ich besser auf und komme tatsächlich ohne weitere Fehlfahrten in Besançon an, wo ich in einem Motel die Nacht verbringen will.
Der Portier ist noch da, aber das Restaurant geschlossen, und ich habe Hunger! Also wieder ins Auto und rein in die „City“, wo ich mich in einer Straße wiederfinde, die ein bisschen an die hintere Zeil erinnert. Es gibt diverse Imbisse und einen Pizza-Hut-Takeaway. Ok, so hungrig bin ich dann vielleicht doch nicht. Kurz bevor ich aufgeben will, stoße ich auf einen kleinen Italiener: ganz einfach eingerichtet, aber mit einem Holzofen und fast vollbesetztem Gastraum. Nach der üblichen blöden Frage „Table à deux?“ – sehen die eigentlich alle doppelt? Ich bin allein! – bekomme ich einen der letzten Tische. Der Wein ist so „na ja“, aber die Spaghetti Arrabiata sind sensationell. Ich gönne mir noch ein hausgemachtes Tiramisu, das locker für eine sechsköpfige Familie gereicht hätte und so viele Kalorien hat wie zwei Portionen Currywurst mit Pommes weiß. Weil mir das aber gerade sehr egal ist (hatte ja wochenlang keine Waage und habe keine Ahnung, welchen Schaden das regelmäßige Essen in Marseille angerichtet hat), verputze ich das ganze Dessert, rolle mich zurück in meinen Kleinwagen und falle eine halbe Stunde später auf meine Motel-Schlafstatt. Nach dem morgendlichen Auschecken und einem klassischen Motel-Frühstück geht es zurück auf die (richtige!) Autobahn und weiter gen Frankfurt.
Fazit (ein paar Wochen später)
Es war eine gute und wichtige Zeit, aber sie hat mich stärker aus dem Alltag geworfen als ich vorher vermutet hätte. Die Wiedereingewöhnung ist mir schwergefallen. Nachdem ich von der Überholspur direkt auf die Standspur gewechselt hatte, konnte ich mich nicht wieder zum Einfädeln entschließen. In der ersten Zeit habe ich mich so gut es ging zuhause verkrochen, das Haus fast nur verlassen, um ins Büro zu gehen. Ich glaube, ich habe versucht, mein „Marseille-Gefühl“ zu verlängern. Ganz allmählich habe ich aber wieder Fahrt aufgenommen, zunächst auf der Kriechspur, später im Normaltempo. Auf die Überholspur will ich nicht zurück. Muss ich auch nicht J
Würde ich es wieder tun? Ja! Innezuhalten, sich mal rauszuziehen aus allem, um an einem anderen Ort, vor allem am Meer, zu leben und zu arbeiten, ist wunderbar. Es klärt die Gedanken, relativiert Vieles und ohne Druck fallen Entscheidungen von allein. Man muss sie nicht gewaltsam fällen.
PS: Meine Waage zuhause hat ein Machtwort gesprochen. Die drei Kilo, die ich dank der regelmäßigen Zufuhr leckerer, aber kalorienreicher Mahlzeiten zugelegt habe, werden gerade entschieden abgebaut.