Schlagwörter
Samstag, 10. Januar 2014. Es ist noch Winter, aber das Wetter fühlt sich an wie Frühling: 12°C, ein warmer Wind, Sonne-Wolken-Mix. Was also spricht dagegen, heute der eigentlich den Monaten März bis Oktober vorbehaltenen lieben Gewohnheit des samstäglichen Weinchens nach dem Einkauf auf dem Konstabler Markt nachzugehen? Nichts! Also stehe ich nach dem Kauf tierpolitisch völlig korrekter Beine von ehemals glücklichen, aber heute trotzdem toten Maishähnchen in zweiter Reihe am großen Weinstand – dem mit den guten Rieslingen. Offensichtlich und wenig überraschend bin ich nicht die einzige, der es warm genug ist, um im Freien Wein zu trinken.
Mein Lieblingsriesling (Kalkstein) ist aus, aber es gibt eine Alternative: Kalkmergel – ok, den nehme ich. Mit meinen Hähnchenbeinen in der einen Hand, dem großzügig eingeschenkten Glas in der anderen, einem etwas überdimensionierten Blumenstrauß unter dem Arm und meiner ebenso überdi-mensionierten Handtasche über der Schulter (man weiß ja nie, was man auf der Reise durch die City so alles braucht) kämpfe ich mir einen Pfad durch jene, die schon früher auf die Idee gekommen sind, hier Halt zu machen.
Gefühlte 27 „‘tschuldigungs“ später habe ich ein freies Plätzchen an einem der Stehtische gefunden und richte mich erst Mal ein: Die Geflügelbeine versenke ich in der Handtasche, diese unter dem Tisch, der Blumenstrauß wird obendrauf platziert, wo er auch gleich die Aufmerksamkeit eines jungen Mannes auf sich zieht, der die Unversehrtheit seines Prosecco-Glases gefährdet sieht. Als er merkt, dass ich beim ersten Wein bin, also meine Feinmotorik noch einwandfrei funktioniert, ist er beruhigt und wendet sich wieder seinem Freund zu, um diesen erstmal intensiv zu küssen. Ich wende mich diskret ab und meinen Nachbarn zu, einem jungen Paar, das über zwei Apfelweinen über die Pegida redet.
Sie beunruhige das nicht besonders, meint sie lieb lächelnd, das sei doch eine Randgruppe, die bald wieder verschwände. Er ist eindeutig anderer Meinung, beschließt aber, das jetzt nicht auszudisku-tieren. Wahrscheinlich fürchtet er um den Wochenendfrieden. Ich werfe ihm einen mütterlich-verständnisvollen Blick zu, auf den er mit einem fast unmerklichen Schulterzucken reagiert, und beäuge die anderen Leute am Tisch – ich habe einen der beiden großen erwischt, an dem mit etwas gutem Willen gut zwölf Personen ein Stehplatz finden. Als erstes bleibe ich an einer Dreiergruppe hängen: ein Paar, etwa Mitte dreißig, begleitet von einem Mann, etwa vierzig, der, während er sich mit seinen Freunden unterhält, durch die Gegend guckt. Wartet er auf jemanden oder ist er auf der Suche nach Blickkontakt? Aus reiner Neugier teste ich das mal und lächle ihn an. Er lächelt zurück und berichtet kurz später, sich immer wieder vergewissernd, dass ich auch wirklich zuhöre von seiner Morgentoilette. Er habe sich heute Morgen die Haare gekappt und ihn die Abschnitte würden ihn jetzt noch überall kitzeln. Will ich das wissen? Nicht wirklich. Ich versuche, meine Mimik unter Kontrolle zu halten. Der Mann hat eine ausgeprägte Stirnglatze, der klägliche Rest auf seinem Kopf ist auf 2mm herunterrasiert (offenbar das Ergebnis des morgendlichen Verschönerungsversuchs). Die Bemerkung, dass andere Menschen mit dünnen Haaren viel Geld für „Schütthaar“ ausgäben, verkneife ich mir. Ich glaube, ich will mich heute nicht unterhalten, nur gucken und lauschen.
Unterdessen dringt das laute Organ einer stark geschminkten Frau mit Prada-Brille, falschem Nerz und sehr großen Ringen an den Händen (irgendetwas zwischen Mitte Fünfzig und Mitte Sechzig) zu mir durch. Sie steht mir gegenüber, offenbar mit ihrem Mann/Partner, einem befreundete Paar und ihrer Mutter (Familienähnlichkeit). Und sie ist so laut, weil Mom schwer hört. Ihr Partner wirkt ein bisschen gequält, die Freunde betont freundlich. Entweder war Mom heute nicht eingeplant, oder die bunte Dame nervt. Sie plappert von französischem Champagner, der kaum besser sei als der Prosecco hier (na ja …) sowie davon, dass es ja in 14 Tagen endlich in den Urlaub geht und setzt dazu an, von Sylvester zu berichten …blah-blah-blah. Ich blende sie aus und will weiterschauen, als sich eine kleine mollige Frau in einem noch molliger machenden Parka in die winzige Lücke zwischen dem Männerpaar und mir quetscht. Gezwungenermaßen, weil ihrem halbgegessenen Steakbrötchen ausweichend, wende ich mich ihr zu. Anders als ich hat sie offenbar große Lust, sich zu unterhalten und ich jetzt keine Chance mehr, ihr zu entgehen. „Wenisch Stände heut hier, net? Aber irgendwann müsse die ja au‘ mal Urlaub mache – die liesche bestimmt auf Hawaii am Strand und gebbe des viele Geld aus, des sie bei deene horrende Preise hier verdiene … also isch kaufe ja nett immer nur Bio, is alles viel zu deuer, aber neulisch, da hab ich ma Gadoffeln gekauft mit noch Erde dran, die habbe viel länger gehalte als die vom Supeemarkt … Isch bin mit meinem Sohn hier, der geht so gerne auf Mäkte – ei, wo ist der eichentlisch ….ach da isser ja.“ Ein hochgewachsener Mann schlendert auf uns zu, der irgendwie nordafrikanisch und wenig begeistert aussieht. „Hast Du was zum Esse gefunne, Schatz?“ fragt sie. „Ach, denn schau doch einfach noch ma. Des Steak is heut nett so gut, zu dünn geschnitte, die spare aber auch an allem.“ Der junge Mann verzieht sich. „Ja, also diese Gadoffeln, die wa‘n werklisch doll. Ach wissen Se, isch komm‘ ja net mehr so oft her, seitdem das isch in Dreieich wohn, aber die Mieten hier kann sisch ja auch keins mehr leisten …“ Irgendetwas in mir kann das Verschwinden des Herrn Sohn sehr gut nachvollziehen und ist neidisch auf ihn. Ich bleibe höflich, bin aber mächtig erleichtert, als sie nach zehn Minuten mit ihrem inzwischen wieder aufgetauchten Spross abzieht, wahrscheinlich in den nächsten „Supeemarkt“.
Als ich mich dem nächsten Grüppchen zuwenden will, trifft mein Blick den eines Mannes mit Hund und Helmut-Schmidt-Mütze, Alter zwischen 55 und 60 (Mann, nicht Mütze!), der mir bedeutet, ich solle lächeln. Was will der denn jetzt? Soll mich bloß in Ruhe lassen. Als ich die stumme und reichlich plumpe Kontaktaufnahme mit einem abschätzenden Grinsen quittiere, prostet er mir zu und wendet sich dann wieder seiner Töle und seinen drei Gesprächspartnern zu. Das war einfach.
Plötzlich fühle ich mich beobachtet. Ich folge dem Gefühl und entdecke am Nebentisch einen älteren Herrn in Lodenmantel und passendem Hut. Er steht mit ungerührter Miene da, vor sich einen Weißwein, und beguckt sich die Menschen – die männliche Ausgabe meiner selbst. Sofort lässt er den Blick weiterschweifen. Ich habe natürlich nicht das geringste Bedürfnis, ihn stumm zum Lächeln auf-zufordern, muss aber selbst schmunzeln, weil ich mich irgendwie ertappt fühle. Mittlerweile ist auch mein Glas leer. Weil mich ein zweites überfordern würde, packe ich meine Schätze zusammen und bahne mir den Weg zurück an die Theke, um das Leergut abzugeben. Schon meine Mom hat immer gesagt, man solle nicht andere Leute hinter sich herräumen lassen. Dabei komme ich an dem Mann mit Hund vorbei. Er raunt mir zu: „Ich hoffe, Sie kommen bald mal wieder“. Ob dieser Direktheit fallen mir als Reaktion nur ein spöttisches „Ja, sicher“, gefolgt von einem ungläubigen Kopfschütteln ein.
Für den heutigen Tag habe ich genug Menschen beguckt und belauscht. Ich ziehe mich zurück an den heimischen PC. Diese dreiviertel Stunde bietet ausreichend Stoff für einen Blogbeitrag.