Eigentlich ein seltsamer Gedanke, sich eine Oper im Kino anzusehen, denn Oper ist neben der Inszenierung ja vor allem Mal Klang. Und für mich ist ein Opernbesuch auch immer ein Event: sich mal richtig schick machen, am besten in aller Ruhe mit ein bisschen klassischer Musik aus der Dose im Hintergrund, ein wenig Farbe im Gesicht, die kleine Handtasche mit dem Nötigsten statt des „Lieblingssacks“ mit allem, das etwas schwerere Parfum, die Hochhackigen … na, ein Event eben. Und Oper hat eine ganz eigene Atmosphäre. Dazu gehören neben dem Gläschen Sekt in Vorfreude auf das Besondere und die Auswahl der Pausenhäppchen auch die herausgeputzten Leute im Foyer, der Blick auf die Musiker in den Orchestergraben, das leise Gemurmel, wenn der Saal sich füllt, und dann, nach dem Willkommensapplaus für den Dirigenten, der Moment, an dem es still wird und man ganz flach atmet vor lauter Spannung, bevor der erste Ton anhebt und der Vorhang den Blick auf das Eröffnungsbild freigibt – wunderbar!
Nun also erstmals Oper im Kino um die Ecke, weil meine Neugier auf die diesjährige Bayreuther Neuinszenierung so groß ist und es für dort keine Karten mehr gab. Und weil Tristan & Isolde „meine“ Oper ist: eine Musik, die schon in der Ouvertüre mein Hirn ausschaltet und in mir so ziemlich alles zum Klingen bringt, was da so klingen kann und eine Story, die mich immer wieder mittig trifft …
Schon im Vorfeld habe ich herumgewitzelt und mir ausgemalt, wie sich die Wagners gigantische Musik wohl in einem so profanen Umfeld wie einem Großkino ausmachen würde. Wagner nach Eiscreme- und Sportschuhwerbung; der Liebestod zwischen diesen kleinen fettigen dreieckigen Chipsdingern und 2,5-Liter-Pappbechern mit Cola: Ob der Zauber der Musik alldem wohl standhalten kann? Für mich war’s ein Experiment.
Nach einem kurzen Weg bei 38°C erwartete uns im klimagekühlten Kino ein abgetrennter Bereich mit schwarz verhüllten Stehtischlein und einer Bar mit Sekt und Wein in echten Gläsern, vertrieben von einer jungen Frau ebenfalls in schwarz mit einem niedlichen neobarocken Band im Haar. Gut, die Softgetränke wurden in Flaschen mit Strohhalm gereicht … aber offenbar war man sich seitens der Kinoleitung doch der Besonderheit dieser Vorstellung bewusst und tat sein Bestes.
Um 16 Uhr hebt sich üblicherweise der Vorhang in Bayreuth, und im Kino sollte zuvor ein „kinoindividuelles Vorprogramm“ gezeigt werden. Also fanden wir uns um 15 Uhr 45 im Kinosaal ein, bewaffnet mit einem Fläschchen Evian und zusammen mit etwa 50 anderen Menschen, die offenbar auch keine Karte für Bayreuth bekommen hatten. Vielleicht haben sie auch nur die hohen Ticketpreise gescheut oder ziehen es vor, sich ganz leger dem Musikgenuss zu ergeben. Ein buntes Grüppchen hatte sich da zusammengefunden. Outfitmäßig war vom dunklen knöchellangen Kleid plus Perlenkette bis zu kurzen Hosen plus Badeschlappen alles vertreten, und es gab sowohl Männerpaare als auch Singlemänner, Heteropaare und Singlefrauen – Altersdurchschnitt etwa 60.
Im Saal selbst keine Spur von Vorprogramm. Aus den Lautsprechern klang Elektropop, was mich leicht grummeln ließ. Um 16 Uhr erste fragende Blicke und mehr oder weniger launige Mutmaßungen: Sind die in Bayreuth spät dran? Hitzeprobleme? Filmvorführerstreik? Um 16 Uhr 05 wurde das Gemurmel zunehmend lauter und ungehaltener. Der Vorhang blieb zu, der Elektropop begann echt zu nerven. Mir reichte es. Ich wollte wissen, was los war. Auf mein Klopfen an die Techniktür öffnete ein junger Mann, der sich um Gelassenheit bemühte und erklärte, das Signal aus Bayreuth käme nicht. Meinen Hinweis, dass man uns gerade der Ouvertüre beraube, quittierte er mit einem fragenden Blick (Uwer…was?) und meinte dann, er beraube uns gar nix, aber sie würden alles tun, damit die Verbindung zustande käme. Er klang glaubwürdig. Ich blieb freundlich. Zurück im Saal habe ich den übrigen Wartenden mal die Information weitergegeben, was die Stimmung etwas besänftigte. Menschen wollen, dass alles klappt, und wenn es denn mal nicht klappt, wollen sie wissen warum. Und sie wollen hören, dass man sich bemüht, damit es endlich klappt. Kleiner Tipp an die Kinoleitung (und alle Veranstalter dieser Welt): Redet mit Euren Zuschauern, wenn mal etwas schiefgeht! Ach, und danke für den Gratis-Pausensekt als Entschuldigung für den fehlenden Anfang – nette Geste …
Noch bevor sich wieder echter Unmut ausbreitete, stand die Leitung. Wir waren endlich live in Bayreuth zugeschaltet, hatten allerdings die erste Viertelstunde verpasst. Sehr blöd, aber nicht zu ändern. Eingestiegen sind wir kurz nach dem Lied des Seemanns, bevor Isolde ihre Vertraute Brangäne zu Tristan schickt, um ihm zu sagen, dass sie ihn sprechen will. Die Akustik war recht grausig, aber das habe ich erstaunlich schnell verdrängt – dank der Macht der Bilder und weil der Tristan bei mir offenbar auch leicht „verrauscht“ funktioniert. Das Bühnenbild des ersten Akts: ein gigantisches recht dunkles Labyrinth aus Treppen, die zum Teil wegklappten und hoch- und runterfuhren. Es versinnbildlichte, dass Tristan und Isolde nicht zueinander kommen können. Ein paar Kritiker hat das an Escher erinnert, mich eher an ein Gewirr aus Feuertreppen, wie man sie in amerikanischen Filmen manchmal sieht.
Das besondere waren aber die Close-ups und unterschiedlichen Kameraeinstellungen. Statt der ewigen Totalen im Opernhaus gibt es eine Bildregie, die den Blick lenkt. Das ist gut, aber auch schlecht. Gut, weil man die Bühne aus ungewöhnlichen Perspektiven sieht und weil die Kamera Details preisgibt, die sonst verborgen bleiben. Das kann Stimmung erzeugen, zum Beispiel, wenn sich zwei Hände aufeinander zubewegen und sich am Ende dann noch nicht berühren, oder wenn sich Blicke zögernd finden. Außerdem erzwingt es den Blick auf das Spiel der Sänger, auch der kleineren Rollen und Statisten. Das gibt der Oper eine zusätzliche Dimension. Es funktioniert allerdings nur, wenn die Sänger nicht nur singen, sondern auch spielen können. In Bayreuth konnten das die meisten – vor allem Tristan und Marke spielten sehr ausdrucksstark, ohne zu übertreiben. Auch die kleinen und stummen Rollen waren immer konzentriert „in der Szene“.
Manchmal ist dieses Genau-hinsehen-können aber auch kontraproduktiv. Opern sind nun Mal auf Abstand inszeniert. Bei Close-ups wirkt deshalb die Mimik oft zu groß, grotesk und unfreiwillig komisch. Das war bei der Isolde ab und zu der Fall, aber sie ist ja auch erst vor ein paar Wochen eingestiegen … und an ihrem Gesang gab es nichts auszusetzen. Bei Brangäne sorgten die Nahaufnahmen dafür, dass man ihren „S“-Fehler nicht nur hörte, sondern auch sah, aber auch sie hat wunderbar gesungen, ebenso wie Tristan und Marke. Doch zurück zum Kinoformat:
Ein weiterer Nachteil der Close-ups ist, dass sie Bühneneffekte entzaubern. So sah man im zweiten Akt, wie Tristan und Isolde auf einen Knopf drückten, damit aus Eisenstäben „Blut“ auf ihre Arme floss. Selbst aus der 1. Reihe in Bayreuth wäre die Illusion erhalten geblieben, dass sie sich mit den Stäben verletzen. Und im dritten Akt löst eine der „Isolden“ aus Tristans Fiebertraum mit einem Gerät in der rechten Hand einen Blutstrom aus ihrem Kopf aus, was ohne das Wissen um die Technik sicher ein toller Effekt gewesen wäre.
Ein echtes Plus der Kinoübertragung war das Rahmenprogramm. Den ersten Teil haben wir ja verpasst, aber vor dem zweiten und dritten Akt gab es Interviews mit der Regisseurin Katharina Wagner, Requisiteuren, Bühnenbauern, einem jungen Sänger (sehr sympathisch) und dem Kostümbildner. Er nannte die Kostüme zeitlos, und das waren sie auch. Für meinen Geschmack hätten sie ein bisschen mehr Power haben dürfen, vor allem angesichts des durchstrukturierten Bühnenbilds. Aschgrüne, aschblaue und aschgelbgrüne eher grobe Stoffe haben sie hergenommen, und der armen Brangäne hat man ein Gewand angezogen, das für eine Frau mit Kleidergröße 40+ nicht unvorteilhafter hätte sein können – erinnerte sehr einen weiblichen Troll.
Das Interview mit dem Christian Thielemann war besonders aufschlussreich. Er berichtete, er sei lange Jahre um den Tristan „herumgeschlichen“ und in der Vorbereitung der Inszenierung immer wieder versucht gewesen, sich von der Emotionalität, der Expressivität und den Exzessen von Musik und Sujet mitreißen zu lassen. In Zusammenarbeit mit der Frau Wagner sei es ihm gelungen, den „Tiger“ in Schach zu halten. Nach dem Interview mit der schnodderigen, pseudocoolen, schrabbelstimmigen Regisseuse mit „ig-Fehler“ konnte ich das gut nachvollziehen – und fand es zugleich sehr schade. Mir haben nämlich an der einen oder anderen Stelle die Exzesse gefehlt, sowohl im Dirigat als auch auf der Bühne. Diese expressivste aller Musiken erzählt die Geschichte einer von Anfang an zum Scheitern verurteilten, aber unkaputtbaren Liebe, die Tristan und Isolde entgegen aller Vernunft und allen besseren Wissens aufeinander zutreibt, wohl wissend, dass sie zum Schaden beider ist. Das schreit förmlich nach Exzessen. Ein zweiter Akt, vor allem ein „Sink hernieder, Nacht der Liebe“ fast ohne Berührungen und ein zurückgenommenes Orchester werden dem nicht gerecht. Sehr bezeichnend, dass die Wagnerin Tristan und Isolde den (aus lichttechnischen Gründen pinkfarbenen) Liebestrank nicht trinken, sondern über ihre ineinander verschränkten Hände schütten lässt: kein Zauber, keine künstlichen Exzesse. Mag auch sein, dass die Laborsituation im 2. Akt nicht dazu gereicht, sich körperlich näher zu kommen. (Ja, ich weiß, die Kritiker sagen alle, es sei eine Folterkammer, aber für mich ist es ein Laborkäfig mit „Hamsterspielzeug“). Wie auch immer: Die Musik und das Libretto sprechen eine andere Sprache. Da werden Gipfel erklommen und Täler durchlitten, und das mag ich erheblich lieber als die kühlere Variante der Frau W.
Gut gefallen haben mir abgesehen von den tollen Stimmen (vor allem der Tristan ist selbst im Kino eine Wucht) das Bühnenbild, die Düsterkeit, die Effekte und die Interpretation des „Liebestods“ nicht als konkretes Sterben, sondern als „entseeltes“ Weiterleben, in Isoldes Fall an der Seite von Marke. Und nein, ich finde nicht, dass das meinem Ruf nach mehr Exzessen wiederspricht, denn manchmal ist Weiterleben tragischer als Sterben.
Mein Fazit zur Inszenierung: Nicht schlecht, aber es geht besser. Die Musik tröstet über alles hinweg und lässt sich auch nicht kleindirigieren/-inszenieren.
Mein Fazit zum Format: Oper im Kino ist völlig anders als „in echt“ und hat eher etwas von einem Musikfilm. Wer das weiß und sich darauf einlässt, verzichtet zwar auf Event-Feeling und höchsten Hörgenuss, gewinnt aber Einblicke, die er vor Ort niemals hat. Ich bevorzuge sicher weiter das Opernhaus, aber wenn ich eine Inszenierung unbedingt sehen möchte und das aus irgendeinem Grund nur im Kino möglich ist, tue ich es wieder.