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TEIL 1
Warum ich bin, wo ich bin
Die Sonne geht unter – quietschpink und rotfeuerlich. Unter mir grummelt und ploppt das Meer, in den nahen Felsen wohnt eine Zikade, neben mir momentan zwei Männer im „besten Alter“, die Opernarien hören.
Ich bin allein – weil ich das so wollte, allein in einem Land, dessen Sprache ich nur rudimentär beherrsche, an einem Ort, der mir das Gefühl vermittelt, auf dem Meer zu leben. Und heute, am fünften von 32 Tagen, bin ich mir sicher, dass es eine gute Entscheidung war, hierherzukommen.
Im Mai, als mir nach eineinhalb sehr turbulenten Jahren das Leben und mein Gefühlschaos in fieser Kumpanei endgültig über den Kopf zu wachsen drohten, habe ich kurzentschlossen diese Fischerhütte gebucht direkt am Meer. Overworked, underloved, underslept und underfed. Gefangen in (zugegebenermaßen größtenteils selbstauferlegten) Pflichten und immer unterwegs zu irgendeinem Termin oder Event wollte ich nur noch weg – von allem und allen. Ich erinnerte mich an das Buch „Das große Los“ der Journalistin Meike Winnemuth, die nach einem Millionengewinn bei Günter Jauch ein Jahr lang jeweils einen Monat lang in einer anderen Stadt auf dieser Welt gewohnt hatte. Diese Idee hatte mich nie ganz losgelassen. Einen Millionen-Gewinn habe ich zwar nicht im Rücken, aber weil wir in einer Welt der unendlichen Erreichbarkeit legen, kann ich überall arbeiten. Genug Geld für die Fahrt und ein paar Wochen lang doppelte Miete ist auch da.
Seit der Buchung im Mai hat sich vieles relativiert, geklärt, geändert, auch verbessert, aber ich lebe immer noch auf der Überholspur. Deshalb musste und wollte ich diese Reise machen. Der Gedanke, ein paar Wochen am Meer zu leben, ist einfach nur berückend. Außerdem will ich wissen, wie es sich anfühlt, wirklich allein zu sein, keine Kompromisse eingehen zu müssen und (abgesehen von den Abgabeterminen meiner Projekte) keine Termine zu haben … eine Mischung aus „Mal was anders machen als sonst“ und Selbstversuch: ein Experiment. Ich bin gespannt, was und wer mir wirklich fehlen wird und, um es mal im Psycho-Jargon zu sagen, was das so mit mir macht. Heute ist zwar alles besser als noch vor einem halben Jahr, aber meine alte Gelassenheit und die Fähigkeit, immer alles positiv und mit Humor zu betrachten, haben sich noch nicht vollständig wieder eingestellt. Vielleicht finde sie hier wieder.
- Reisetag
Am Vormittag ging‘s los. Mit Vorfreude, aber noch in Abschiedsgedanken machte ich mich auf den Weg. „Du denkst zu viel nach. Das ist nicht gut“, sagt mir ein kluger Mensch immer mal wieder. Dass er Recht hat, zeigt sich schon darin, dass ich in Frankfurt gleich zweimal die richtige Auffahrt verpasst habe und eine halbe Stunde auf den diversen Autobahnen herumgekurvt bin, bevor ich auf der A5 gen Süden war. Bis Lyon wollte ich kommen, dort übernachten und die letzte Etappe am Mittwoch fahren. Auf den Tankstellen in Frankreich habe ich gelernt, dass es Zapfsäulen gibt, die mit Kartenzahlung funktionieren, allerdings weder mit Visa noch mit meiner Sparkassen-Maestro-Karte … an anderen Säulen darf man einfach lostanken und an der Kasse zahlen. Das waren dann meine. Auf den Autobahnen selbst habe ich gelernt, dass Franzosen gerne mal blinken, auch wenn sie nicht die Spur wechseln wollen. Irgendwann habe ich ein Gefühl dafür entwickelt, wann ein Blinken ernst zu nehmen ist und wann nicht. Und wie französische Blitzgeräte aussehen, weiß ich jetzt auch … bin gespannt, ob die mich ausfindig machen. Die Straßen waren fast frei, vor allem die Mautstraßen (ein Luxus, der mich etwa 60 Euro kostete) … na ja, fast frei: Kurz vor Lyon erwarteten mich der Feierabendstau, ein Tunnelbaustellenstau, ein Unfallstau und in der Stadt selbst geriet ich in einen sintflutartigen Regen, der für zehn Minuten alles zum Erliegen brachte. Ich hatte kein Hotel gebucht – wusste ja nicht, ob ich es bis hierher schaffen würde – und fuhr ein bisschen orientierungslos herum. Den Gedanken, über irgendein Portal zu suchen und online zu buchen, musste ich aufgeben: kein Netz, was ich erstmal auf Vodafone schob. Einen Parkplatz in der City vor einem Mercure-Hotel nahm ich dann als Wink des Schicksals und blieb. Die Übernachtung kostete mich ein kleines Vermögen, aber das war dann auch schon egal. Das Hotel-WIFI funktionierte so halb gut, und nachdem ich die aufgelaufenen knapp 100 Mails gescreent und festgestellt hatte, dass keine eine sofortige Aktion erforderte (danke Ralf J), ging es mir sofort besser. Ich fand ein kleines Restaurant in der Nähe und genehmigte mir ein 3-Gänge-Menu mit politisch total inkorrekter Foie Gras, allerdings gefolgt von Bio(!)-Rind und einer sehr unfranzösischen, aber traumhaften Panna Cotta, begleitet von einem Pastis und einem Glas Landwein, das besser war, als der Inhalt so manchen 15-Euro-Fläschchens zuhause. Dass ich nach gut 7 Stunden Autobahn und diesem kulinarischem Abschluss einigermaßen erschöpft um 22 Uhr in die Luxuskissen sank, bedarf sicher keiner Erklärung.
- Reisetag
Am Morgen sah die Welt gut aus. Das Auto war noch da, die Rückspiegel noch dran und Knöllchen hatte ich auch keins. So gegen 9 Uhr war ich auf der Bahn. Die Landschaft wurde immer mediterraner und alle halbe Stunde stieg die Temperatur um etwa 1 Grad. Gegen Mittag war ich am Ziel – bei 21 Grad, Sonnenschein, heftigem Wind, aufgewühltem Meer und gut zwei Stunden zu früh. Um drei sollte ich den Schlüssel bekommen. Also saß ich erstmal eine halbe Stunde auf einer Aussichtsplattform direkt neben meiner zukünftige Bleibe herum, las die Geschichte des Chateau d’If und sog das wilde Meer und die Sonne in mich auf, um dann die Gegend zu erkunden, in der ich die nächsten knapp fünf Wochen verbringen sollte. Ich entdeckte einen Bäcker, einen Metzger, ein Blumengeschäft, ein paar Lokale sowie einen kleinen und einen sehr kleinen Supermarkt – alles da was man so braucht! Nach einem Snack war es fast drei; ich also zurück zum Treffpunkt.
Corinne kam, mein Kontakt für die Übergabe: „Hi, I am Corinne, are you … Anette?“ – „Yes“. – “Don’t you have any luggage?” – Of course, but still in the car.” Handshake. „Do you speak French?” – „Pas assez bien, je crois” – „Ok, we do it in English. I show you the house.” Sprach’s und ging auf eine verrostete Gittertür am Ende der Aussichtsplattform zu, die sicher schon die ganze Zeit da, mir aber gar nicht aufgefallen war, bewaffnet mit einem gut bestückten Schlüsselbund. Der rote Schlüssel war für diese Tür, die immer doppelt abgeschlossen sein musste (rot = rostige Tür, kann ich mir merken). Hinter der Tür führten (wie ich mittlerweile gezählt habe) gut 60 ebenso steile wie ungleichmäßige Treppenstufen in die Tiefe. Der runde Schlüssel war für die nächste Tür, die ebenfalls immer zwei Mal abgesperrte werden musste (runder Schlüssel – rundes Schloss, kann ich mir auch merken). Wir standen auf einem etwa 2 Meter breitem Weg: rechts drei Fischerreihenhütten, links, in etwa 5 Meter Tiefe, das Meer. Gleich die erste Haustür war meine. Der schwarze Schlüssel war für die elektrische Jalousie, für deren Betrieb man aber einen Trick anwenden muss (schwarzer Schlüssel plus Trick = graue Jalousie, na, ob ich mir das merken kann?). Der eckige Schlüssel gehörte zur eigentlichen Haustür, die man zwar einfach aufschließen kann, aber deren Verschluss mit einem anderen Trick verbunden ist (eckiger Schlüssel plus Trick ….). Offenbar schaute ich ein bisschen verwirrt … „No problem, you will learn that soon“, sagte sie und entschwand im dunklen Haus. Ich folgte ihr. Was sonst.
Sie führte mich in ein stockdunkles Räumchen. „This is the sleeping room.“ Der Holzladen des Fensters war kaputt und ließ sich nicht an der Hauswand befestigen, so dass sie mir empfahl, ihn immer geschlossen zu halten. Wie jetzt: Ich soll ich in einer Höhle schlafen? No way, dachte ich, sagte aber erst mal nix; den ollen Holzladen würde ich schon in den Griff bekommen. Dann meinte sie, ich solle das Fenster immer gekippt lassen, weil es im Haus ein Feuchtigkeitsproblem gäbe. Ach ja, interessant. Dann zeigte sie mir zwei Wandschränke. Der kleinere in der Schlafhöhle war zu 60% mit Decken und Kissen befüllt. „Here is space for your things“ 40% der Regalfläche sollten also mir gehören. Ok, das dürfte für Kleinkram, Hosen und T-Shirts reichen, dachte ich. Es gab ja noch den großen im Eingangsbereich, den sie aber irgendwie gar nicht erwähnte. Auf meine Frage meinte sie. „Oh, this one is full of things of the owner. Better don’t touch. The doors are broken anyway.” Nö, nö, nö, so ginge das nicht, sagte ich. Ein bisschen widerstrebend öffnete sie sehr vorsichtig den rechten Teil des Schranks, wies mir eine leere Kleiderstange direkt über dem Putzzeug zu und bläute mir nochmals ein, wie fragil das Teil sei und dass ich sehr vorsichtig sein müsste. Ich war’s erstmal zufrieden. Sie sprang die enge Treppe nach oben. Dort sollten das Bad und der Wohn-/Kochbereich sein. Waren sie auch. Auch hier alles dunkel. Sie tastete sich durch den Raum drückte den Jalousienknopf und da war er: der Blick, der mich für alle Seltsamkeiten entschädigen sollte, die ich bisher gesehen und von Corinne gehört hatte. Himmel, Wasser, Sonne, Chateau d’If und ein paar weitere Inseln und Felsen, Möwen, Wellen, Boote … wunderbar! Ich begutachtete den Balkon und stellte fest, dass er eine Flucht mit der Felsenküste bildete und ich gefühlt über dem Meer schwebte (siehe Titelbild). Und weil meine Hütte eine Eckehütte ist, war auch der Blick nach rechts frei. Ja, hier wollte ich bleiben und sein. Nachdem ich mich ausreichend begeistert hatte, zeigte sie mir die Kochecke (Deckenhöhe max. 1,80) und erklärte mir, dass die Spülmaschine nicht funktioniere, wohl aber der Kühlschrank und die beiden Elektroplatten, und dass es eine Mikrowellen-/Ofen-Kombination gäbe. Die Begutachtung des Badezimmers ergab, dass der Waschtisch nebst Regalen neu, aber der Rest so etwa zehn Jahre alt war − und ja, es gab in dem Haus ein Feuchtigkeitsproblem, wie ich unschwer an den Fugen der Dusche erkennen konnte. Außerdem hängt der Duschkopf schlaff in einer ausgeleierten Halterung herum. Um ein fünfwöchiges einhändiges Duschen zu vermeiden, würde ich da wohl was basteln müssen. Der im Internet angekündigte „Wäschetrockner“ ist so ein Flügelteil auf dem Balkon … aber all das konnte mir die Laune nicht verderben. Ich sah nur noch das Panorama und so Sachen wie das witzige Bullauge in der Badezimmerwand, durch das man in den Wohnraum und aufs Meer gucken kann, hörte Wind, Wellen und Möwen …
Ich erfuhr noch, wo die Gebrauchsanleitungen und die Notfallnummern lagen, erhielt mein persönliches Paket Toilettenpapier nebst einer Flasche Kokosduschbad und die Einladung, mich an den Vorräten zu bedienen, die noch vom Vormieter dastanden: Nudeln, Tee, Kaffee, Essig, Öl, etc. Wir tauschten E-Mail-Adressen aus, verabredeten drei Putz- und zwei Handwerkertermine und ich zahlte meine Restmiete plus Kaution. Dazu musste ich ans Auto. Als Corinne erfuhr, dass ich „so viel“ Geld im Auto an der Straße gelassen hatte, fiel sie fast aus allen Wolken. Aber nach drei Türen und dem Hinweis, dass alle mehrfach abgeschlossen werden müssen, hätte ich mir auch gleich denken können, dass die Gegend nicht die sicherste der Welt war. Na, jedenfalls war noch alles da, und nach einem kurzen Schwätzchen, bei dem ich unter anderem erfuhr, dass der Müll einfach unsortiert in irgendeinen der Container am Straßenrand geworfen wird, und nachdem ich noch schnell verifiziert hatte, dass das Wasser lief, die Lampen leuchteten und WIFI funktioniert, war Corinne weg und ich allein in „meinem“ Häuschen. Ich fand einen Aschenbecher und trank einen ersten Kaffee auf dem Balkon. Im Haus soll nicht geraucht werden. Finde ich vernünftig.
Jetzt stand Auto ausräumen auf dem Programm. Wie ich den 22kg-Koffer die Treppen runtergekriegt habe, weiß ich nicht mehr und an den Auszug in knapp fünf Wochen wollte ich gar nicht erst denken. Aber nach 20 Minuten war alles im Haus. Ich inspizierte noch mal den Stauraum, stellte fest, dass der Platz reichte, wenn ich ein bisschen umräumte und goss die bemitleidenswerte Yukka-Palme im Wohnzimmer – erstmal ganz vorsichtig: Verdurstende sollen ja in kleinen Schlucken trinken … Der E-Mail-Check ergab, dass ich heute nix mehr tun musste, aber morgen den Tisch voll haben würde. Fein. Nachdem ich ein paar meiner versprochenen „bin angekommen, alles bestens“ in die Welt geschickt hatte, war es 18 Uhr geworden. Zeit, den vorher entdeckten Einzelhandel zu testen. Ergebnis: Der Verkäufer in der Metzgerei ist Italiener und meint, mein Französisch sei besser als seins, die Kassiererin im Supermarkt ist vor allem mal müde, aber nett und die junge Frau beim Bäcker ist einfach eine junge Frau beim Bäcker. Alle Läden sind gut sortiert. Die Pasteten vom Metzger, der auch eine ordentliche Käseauswahl bietet, und diese Petits Fours aus der Bäckerei werden mein Figurruin sein, wenn ich mich nicht diszipliniere. Ach, ich habe ja noch gar nicht erwähnt, dass es hier keine Waage gibt – und das mir, die seit April 2010 Jahren eine tagesgenaue Gewichtsstatistik führt … Bepackt mit französischen Lebensmitteln kehrte ich in mein Zuhause auf Zeit zurück – sehr zufrieden mit der Welt und mit mir. Die Reparatur des Fensterladens vor der Schlafhöhle verschob ich auf den nächsten Tag. Den Abend verbrachte ich mit einem kalten Dinner (frisches Baguette und diverse Leckereien aus den Fachgeschäften) und damit, durch gefühlte 30 französische Programme zu zappen, um mich aber schnell in meine Dunkelkammer zurückzuziehen und begleitet vom Meeresrauschen einzuschlafen.
Die ersten beiden Tage in der Eremitage
Am Donnerstag und Freitag habe ich vor allem mal gearbeitet – viel gearbeitet. Schließlich war ich zwei Tage im Verzug. Aber alles ging leicht von der Hand, unterbrochen von ein bisschen Facebooken und Buch lesen: The Circle von Eggert. Meine Güte, wann habe ich das letzte Buch gelesen. In den letzten Monaten war ich froh, wenn ich den Spiegel geschafft habe. An ein Buch war nicht zu denken. Aber keine Abendtermine zu haben, bedeutet auch eine andere Zeiteinteilung und Muße, zwischendurch mal eine halbe Stunde Pause zu machen – ein völlig neues Gefühl. Gefällt mir gut.
Schließlich machte ich mich an die diversen Reparaturen: Den Duschkopf habe ich mit einem Streifen Pappe in der Halterung befestigt – geht. Der hölzerne Fensterladen hält jetzt an der Hauswand, nachdem ich ihn mit einer herumliegenden Kombizange festgeklemmt habe: natürliches Licht in der Schlafhöhle! Am Mittwochabend hielt ich den Türknopf vom Badezimmer in der Hand. Das habe nicht wieder hingekriegt, so dass ich ihn nur wieder aufgesteckt habe und jetzt eher nicht betätige. Sollte ich mich aus Versehen im Bad einsperren, hätte ich nämlich ein Problem … Das kombinierte Mikrowellen-/Ofengerät bleibt vorerst ein Rätsel. Als Ofen funktioniert es, als Mikrowelle nicht. Habe einen Hilferuf an den Siemens-Kundendienst mit der Bitte um Zusendung einer Gebrauchsanweisung gemailt … bin sehr gespannt.
Ich war im Meer schwimmen! Der Weg zum „privaten Meerzugang“ führt durch zwei Tore und über vielleicht 20 Meter unebenes Gelände, das ein bisschen an eine Baustelle erinnert, aber wohl immer so aussieht. Das Wasser war klar und kühl, aber noch warm genug und Neptun ein freundlicher Gastgeber. Abends habe ich für micht alleine gekocht, seit ewigen Zeiten mal wieder. Gefällt mir auch. Wird wieder eingeführt.
Fortsetzung folgt